Eigentlich muss man niemanden daran erinnern aber falls dieser Text in ferner Zukunft gelesen wird, fassen wir die Umstände grob zusammen: Black Widow, der neueste Film des Marvel Cinematic Universe sollte ursprünglich im Mai 2020 erscheinen. Als Reaktion auf eine globale Gesundheitskriese, ausgelöst durch das Beta-Coronavirus SARS-CoV-2 mussten weltweit auch die Kinosäle schließen. Wie wenig Menschen mit unangenehmen Situationen und Konsequenzen umgehen können, zeigt sich an den gesellschaftlichen, persönlichen und globaen Clusterfucks, die seitdem über uns hereingeprasselt sind. Grüße an die Zukunft und zurück zur Popkultur.
Dass es drei Veröffentlichungstermine gebraucht hat, bis Black Widow es in die, mittlerweile wieder geöffneten, Kinos geschafft hat, dass er einen Tag später im VIP-Zugang (für 21,99 Euro) via Disney+ verfügbar sein wird, zeigt wie die Pandemie auch die Pläne der wohl erfolgreichsten Blockbusterschmiede durcheinander gewirbelt hat. Das ist nicht nur wirtschaftlich relevant, sondern auch für die Zuschauerperspektive: von 2013 bis 2016 gab es jedes Jahr zwei, von 2017 bis 2019 drei MCU-Filme pro Jahr. Seit Spider-Man: Far From Home lag das MCU im Kino still. (Weil das Kino still lag.)
Für Marvel und die Fans war es ein großes Glück, dass man ohnehin mehrere MCU-Serien für den hauseigenen Streaming-Dienst Disney+ in der Pipeline hatte, wo man den Bedarf an Neuem befriedigen konnte. Doch so innovativ Wandavision und Loki sind und so smart erzählt wie The Falcon and the Winter Soldier war: Trotz hohen Produktionswerten und Kinooptik liegen zwischen Wohnzimmer und Kinosaal noch Meilen.
Für ein Publikum, das über ein Jahr keine Filme mehr auf der großen Leinwand sehen durfte, ist Black Widow nun tatsächlich genau das richtige: Action und Set-Pieces die sich im kleinen Bild kaum richtig entfalten können, ein Fest für Augen und Ohren.
Inhaltlich funktioniert der Spagat zwischen eigenständiger Geschichte und Anschluss an das große MCU gerade gut genug um auch Zuschauer mit Wissenslücken nicht zu verwirren – tatsächlich könnte man Black Widow sogar ohne Vorwissen schauen. Falls der letzte gesehene Marvelfilm Captain America: Civil War gewesen ist, mag man sich sogar komplett zuhause fühlen, denn Black Widow spielt zeitlich direkt danach.
„The key word in back story is back“ schreibt Stephen King in On Writing: A Memoir of the Craft und das mag für Filme vielleicht sogar noch mehr gelten als für Romane. Dennoch war es mehr als überfällig, dass Natasha Romanoff aka Black Widow ihren ersten (und mutmaßlich letzten) Solofilm bekommt. Als Mitglied der ursprünglichen MCU-Avengers und der bekanntesten Spionin direkt neben Spymaster Nick Fury war ihre Hintergrundgeschichte passenderweise ein kleines Mysterium, das nur über kurze Rückblenden und Anspielungen in den Dialogen vermittelt wurde (und teilweise auf harsche Kritik stoß).
Doch das Abarbeiten der Hintergrundgeschichte ist nur eine der Aufgaben, die Black Widow elegant und unterhaltsam bewältigt: Auch wenn man keine tiefenpsychologischen Leistungen erwarten sollte, versteht man am Ende des Films sehr viel besser, wie die titelgebende Figur in ihrem Inneren tickt und wie sie zu ihren Mitmenschen steht. Die Anbindung an das restliche MCU gelingt so gut, dass man bei künftigen Rewatches Black Widow nahtlos zwischen Civil War und Infinity War anschauen kann – hier haben die Macher im Großen und im Kleinen ein erschreckend gutes Gespür dafür bewiesen, was dem Zuschauer ein Gefühl von nativer Zusammengehörigkeit von Geschichten vermittelt: Plot, Worldbuilding, Schauspiel, Stimmung, Gaderobe und Makeup arbeiten zusammen und schaffen es, dass Black Widow weniger ein Prequel als eine verspätete Fortsetzung ist.
Thematisch widmet sich der Film den Stichpunkten „Familie“ und „Emanzipation“. Der erste Themenkomplex bleibt dabei oberflächlich aber angenehm unkonventionell – wer hätte bei Natasha Romanoff auch mit einer generischen Kleinfamiliengeschichte ohne Haken gerechnet? – wird aber sehr offen und plakativ angesprochen. Dass es aber auch um die Emanzipation weiblicher Figuren geht, ist natürlich auch kein Fall für das Hermeneutisch Interpretatorische Einsatzkommando, wird aber immerhin nicht demonstrativ didaktisch durchdiskutiert, sondern ist – in jedem Wortsinne – starker Teil von Handlung und Subtext.
Die schauspielerische Leistung des Casts nicht zu loben wäre sicherlich ein Fehler. Scarlett Johanson ist selbst so bekannt und kennt ihre Figur mittlerweile so gut, dass es schwer fällt noch von ihrer Leistung überrascht zu sein. Dennoch ist es spannend zu sehen, wie sie emotionale Noten umsetzt, die wir von der spionierenden Assasine noch nicht gesehen haben. Florence Pugh wird zurecht für ihre Leistung mit viel Lob überschüttet, Rachel Weisz spielt sich routiniert durch den Film, David Harbour liefert uns die bärig sympathische Figur, die wir von ihm erwartet haben, Ray Winston verströhmt eine Aura ekelhafter, toxischer Bedrohlichkeit. Die wohl intensivste Leistung des Films liefert aber Ever Anderson als junge Natasha Romanoff ab: In ihren wenigen Szenen zeigt sie eine rohe, authentische Emotionalität, die nicht nur beachtlich ist, sondern die für die emotionale Erdung ihrer Figur und des Films enorm wichtig wird.
Fazit
Wer nach dieser langen Zeit ohne Kino erstmals wieder eine Eintrittskarte kauft, könnte sich kaum für einen besseren Film entscheiden als für „Black Widow“. Niemand hat von „Black Widow“ erwartet, dass hier das Blockbuster-Kino revolutioniert wird aber neben der mittlerweile perfekt eingestellten Marvel-Formel findet unter der Haube eine schleichende Evolution statt, die uns hoffentlich bald überraschen wird.